Gyges und sein Ring
(Tragödie in 5 Akten, 1856)
 

1854 wurde Hebbel auf die von Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) in seinen Historien erzählte Geschichte von Gyges aufmerksam und faßte sogleich den Plan, eine Tragödie zu schreiben. Gyges´ Geschichte erzählt, daß dieser die Gemahlin seines Freundes Kandaules auf dessen Wunsch heimlich unverschleiert sieht. Die um das Märchenmotiv des Zauberrings, das sich zuerst in Platons Überlieferung des Gyges-Stoffes findet, berreicherte Handlung des Dramas ist mystisch und vorgeschichtlich. Kandaules, der König von Lydien, der als ebenso kühner wie unbedachter Neuerer wenig Rücksicht nimmt auf die Erfurcht seines Volkes vor Traditionen, bemerkt erste Anzeichen der Unzufriedenheit, als er versucht, die alten Heiligtümer zu verdrängen, und Krone und Schwert seines Ahnen Herakles umschmieden läßt. Doch während er sich gegen seine Untertanen durchsetzen kann, wird ihm seine "moderne" Einstellung gegenüber Althergebrachtem im privaten Bereich zum Verhängnis. Als sein griechischer Freund Gyges ihm einen unsichtbarmachenden Ring schenkt, drängt er Gyges, ihn im Schutze der Zaubermacht des Ringes nachts in das Gemach seiner Gemahlin Rhodope zu begleiten und ihm deren Schönheit zu bestätigen. Damit verstößt er gegen die in der indischen Heimat seiner Frau heilige Sitte, daß nur der Vater der Braut und später ihr Ehegatte sie entschleiert sehen darf. Die nächtliche Szene selbst ist ausgespart; erst danach erfährt der Zuschauer, daß Gyges, sogleich das Unehrenhafte seines Tuns erkennend, noch im Schlafgemach den Ring abgenommen und sich sichtbar gemacht hat, um sich der rächenden Hand des Kandaules darzubieten, der zur Wahrung der Ehre Rhodopes gezwungen gewesen wäre, ihn zu töten. Doch Kandaules verbarg Gyges, indem er sich vor ihn stellte, und auch am Morgen nimmt er das Anerbieten seines Freundes nicht an; Gyges will sich daher von Kandaules trennen und nach Ägypten reisen. Rhodope aber hat Verdacht geschöpft und läßt sich von Kandaules nicht lange täuschen; nach und nach erfragt sie die Wahrheit und erfährt schließlich, was sie am meisten verletzen muß: Daß Gyges nicht heimlich, sondern mit Wissen, auf Wunsch des Kandaules ihr Schlafgemach betreten hat. Nun bleibt ihr, wenn sie ihre Selbstachtung bewahren will, nichts mehr übrig, als Gyges aufzufordern, ihren Gatten im Zweikampf zu töten. Kandaules fällt. Als Gyges, dem inzwischen die Krone Lydiens angetragen wurde, mit Rhodope getraut worden ist, nimmt sich Rhodope das Leben, um dem mythischen Gesetz der Reinheit zu genügen.

Die Tragödie, eines der geschlossensten und geschliffensten Stücke Hebbels, wurde schon von seinen Zeitgenossen wegen der sublimen Gestaltung des Konflikts und dessen psychologisch-moralischer Dialektik bewundert. Der Autor selbst kommentierte sein Werk mit den Sätzen: "Ich hoffe, den Durchschnittspunkt, in dem die antike und die moderne Atmosphäre ineinander übergehen, nicht verfehlt und einen Konflikt, wie er nur in jener Zeit entstehen konnte und der in den entsprechenden Farben hingestellt wird, auf eine allgemein menschliche, allen Zeiten zugängliche Weise gelöst zu haben." Was Hebbel als der "Durchschnittspunkt", als die überzeitliche Problemkonstellation erscheinen mußte, war der Zusammenstoß eines schon einem neuen Zeitalter zugewandten Individuums mit den festen Werten und Traditionen seiner Zeit. Kandaules rührt sowohl mit seiner aufklärerischen Haltung als König wie auch mit seiner Mißachtung dessen, was seiner Frau als heiligste Sitte gilt, an das von der Zeit geheiligte und für alle Menschen fraglos Geltende. Vor allem zerstörte er durch die Verletzung der Sitten und Riten den Einklang der Menschen mit der Weltordnung und mit sich selbst: Rhodopes Schleier ist "ein Teil ihres Wesens", und sie muß daher Kandaules' und Gyges' Tat als eine tödliche, sie ins Innerste treffende Schmach empfinden, als eine Bedrohung ihres Grundes, aus dem ihre Sittlichkeit erwächst. Ausgelöst wird Kandaules Handlungsweise u.a. durch seine Eitelkeit und unbedachte Prahlsucht, aus der heraus er in Rhodope nur einen kostbaren Gegenstand sieht. Die Unvereinbarkeit des Welt- und Selbstverständnisses der beiden Zentralgestalten Kandaules und Rhodope löst die Katastrophe aus; der tragische Ausgang stellt die Ordnung wieder her.
 

Hebbels Leben und Werk
 
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